Page 37 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
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die gründung des deutschen sängerbundes (dsb) 1862 und das „österreich-problem“ ...
den Turnern und Schützen auch bei den Sängern nicht zum Bruch inner-
halb des Dachverbandes, lähmte jedoch die Aktivitäten des DSB über den
Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, die Reichsgründung und den
Kulturkampf hinaus, so dass das Zweite Deutsche Sängerbundesfest erst
1874 in München veranstaltet werden konnte.33 Von einer „Sängerbewe-
gung“ im Zeichen des Einheitsgedankens früherer Jahrzehnte war hier al-
lerdings nichts mehr zu spüren. Die Entwicklung der bürgerlichen und der
sich neu bildenden Arbeitersängerbewegung im Deutschen Kaiserreich so-
wie im Kaisertum Österreich und in der Doppelmonarchie Österreich-Un-
garn ist ein anderes Kapitel.
Forschungsperspektiven
Die Gründung des Deutschen Sängerbundes in Coburg am 21. September
1862 gilt als „herausragender Erinnerungsort“ in der Geschichte der Demo-
kratiebewegung in Deutschland. Als in der Bombennacht vom 2. auf den 3.
Januar 1945 in Nürnberg das Deutsche Sängermuseum zerstört wurde, be-
fanden sich unter den Verlusten auch sämtliche handschriftlichen Protokol-
le und andere Originaldokumente des DSB, darunter das „Goldene Buch“
mit den Unterschriften aller Gründungsmitglieder. Die historische Chor-
forschung ist also auf seltene handschriftlich erhaltene, vor allem aber auf
spätere gedruckte Quellen, einzeln publizierte oder in Sängerzeitungen und
Festschriften veröffentlichte Protokolle und Berichte sowie Erinnerungen
von Zeitzeugen angewiesen, die jedoch in der Mitteilung statistischer Da-
ten und Fakten oftmals divergieren.34 Lediglich in der Einschätzung dieses
Gründungsdatums von 1862 als eines „historischen Moments“ und als „eines
der hervorragendsten Gedenktage des deutschen Männergesanges“ gibt es völ-
lige Übereinstimmung.35 Gerade aus diesem Grunde sind auch aus Sicht der
musikalischen Biographieforschung neue Anstrengungen zu unternehmen,
um bisherige Sichtweisen zu korrigieren.36 Dass dies durchaus zu Erfolg füh-
ren kann, hat bereits Otto Elben in seinem Nachruf auf Karl Pfaff gezeigt.37
33 Klenke, Der singende „deutsche Mann“, 127–32.
34 Dies zeigt sich sehr deutlich etwa beim Vergleich von Teilnehmerlisten vom Würz-
burger Sängerfest 1845 oder vom Nürnberger Sängerfest 1861.
35 Gesamtausschuß, Der Deutsche Sängerbund, 36.
36 Melanie Unseld, „Musikwissenschaft“, in Handbuch Biographie. Methoden, Traditi
onen, Theorien, Hrsg. Christian Klein (Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2009), 358–
65.
37 Otto Elben, „Karl Pfaff“, in Zur Erinnerung an Karl Pfaff, Hrsg. Ausschuß des
Schwäbischen Sängerbundes und Ausschuß des Eßlinger Liederkranzes (Eßlingen:
35
den Turnern und Schützen auch bei den Sängern nicht zum Bruch inner-
halb des Dachverbandes, lähmte jedoch die Aktivitäten des DSB über den
Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, die Reichsgründung und den
Kulturkampf hinaus, so dass das Zweite Deutsche Sängerbundesfest erst
1874 in München veranstaltet werden konnte.33 Von einer „Sängerbewe-
gung“ im Zeichen des Einheitsgedankens früherer Jahrzehnte war hier al-
lerdings nichts mehr zu spüren. Die Entwicklung der bürgerlichen und der
sich neu bildenden Arbeitersängerbewegung im Deutschen Kaiserreich so-
wie im Kaisertum Österreich und in der Doppelmonarchie Österreich-Un-
garn ist ein anderes Kapitel.
Forschungsperspektiven
Die Gründung des Deutschen Sängerbundes in Coburg am 21. September
1862 gilt als „herausragender Erinnerungsort“ in der Geschichte der Demo-
kratiebewegung in Deutschland. Als in der Bombennacht vom 2. auf den 3.
Januar 1945 in Nürnberg das Deutsche Sängermuseum zerstört wurde, be-
fanden sich unter den Verlusten auch sämtliche handschriftlichen Protokol-
le und andere Originaldokumente des DSB, darunter das „Goldene Buch“
mit den Unterschriften aller Gründungsmitglieder. Die historische Chor-
forschung ist also auf seltene handschriftlich erhaltene, vor allem aber auf
spätere gedruckte Quellen, einzeln publizierte oder in Sängerzeitungen und
Festschriften veröffentlichte Protokolle und Berichte sowie Erinnerungen
von Zeitzeugen angewiesen, die jedoch in der Mitteilung statistischer Da-
ten und Fakten oftmals divergieren.34 Lediglich in der Einschätzung dieses
Gründungsdatums von 1862 als eines „historischen Moments“ und als „eines
der hervorragendsten Gedenktage des deutschen Männergesanges“ gibt es völ-
lige Übereinstimmung.35 Gerade aus diesem Grunde sind auch aus Sicht der
musikalischen Biographieforschung neue Anstrengungen zu unternehmen,
um bisherige Sichtweisen zu korrigieren.36 Dass dies durchaus zu Erfolg füh-
ren kann, hat bereits Otto Elben in seinem Nachruf auf Karl Pfaff gezeigt.37
33 Klenke, Der singende „deutsche Mann“, 127–32.
34 Dies zeigt sich sehr deutlich etwa beim Vergleich von Teilnehmerlisten vom Würz-
burger Sängerfest 1845 oder vom Nürnberger Sängerfest 1861.
35 Gesamtausschuß, Der Deutsche Sängerbund, 36.
36 Melanie Unseld, „Musikwissenschaft“, in Handbuch Biographie. Methoden, Traditi
onen, Theorien, Hrsg. Christian Klein (Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2009), 358–
65.
37 Otto Elben, „Karl Pfaff“, in Zur Erinnerung an Karl Pfaff, Hrsg. Ausschuß des
Schwäbischen Sängerbundes und Ausschuß des Eßlinger Liederkranzes (Eßlingen:
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