Page 95 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
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funktionen der musikvereine in einem multinationalen, soziokulturellen umfeld ...

Religion im Allgemeinen ihre unumstrittene Position in der Gesellschaft
verliert.

In vorliegendem Artikel betonen wir zuerst die zweite geistliche Di-
mension genannter Funktion, so hatte sie nicht in allen europäischen Mu-
sikvereinen und Gesellschaften das gleiche Gewicht, aber in Galizien nahm
sie eine der Hauptpositionen ein. Von Anfang an konzentrierte sich der
GMV auf die Förderung geistlicher Musik, wie schon zuvor erwähnt.

In den sogenannten Concerti spiritueli des GMV wurde an religiö-
sen Feiertagen in Trauermessen meist geistliche Musik aufgeführt, die das
mystische Erlebnis des Ereignisses betonte. Bereits in der ersten Periode der
Tätigkeit des GMV (1838–1848) bestand ein Teil des musikalischen Reper-
toires aus religiösen Werken: Die Oratorien von J. Haydn, u. a. Die Schöp­
fung, L. van Beethovens Christus an Ölberg, das Paulus Oratorium von F.
Mendelssohn-Bartholdy, Stabat Mater von J. B Pergolesi und J. Rossini,
Messen von J. N. Hummel und J. Roletschek, Oratorien von G. F. Händel u.
m. a. Die Aufführung des Oratoriums Paulus von F. Mendelssohn-Barthol-
dy fand in der damaligen Presse am Vorabend des römisch-katholischen
Weihnachtsfestes am 22. Dezember 1842 im Skarbek-Theater große Beach-
tung und Resonanz.

Aufgrund der Aufführung einer großen Anzahl religiöser Werke ver-
schiedener Genres sowie weltlicher Werke, die jedoch transzendente The-
men des Lebens berührten, entstanden auch mehrere Werke der ortan-
sässigen Komponisten, Mitglieder des GMV wie Mieczyslaw Sołtys (die
Oratorien L‘Inferno, Das Gelübde von Jan Kazimir/Sluby Jana Kazimier­
za, Königin der polnischen Krone/Królowa Korony Polskiej, das Misterium
Ver sacrum), Karol Mikuli (die Kantate Die Reue: „Die Nacht war schwarz“,
Veni creator für Chor mit der Begleitung der Orgel), Stanislaw Niewia-
domski (die Kantate Akt des Glaubens/Akt wiary, Das Frühlingsgebet/Mod­
litwa wiosenna für Chor und Orchester), Jan Gall (die Sammlung Hinge­
bungsvolle Lieder und Weihnachtslieder/Pieśni nabożne i kolędy) u. m. a.
Im ukrainischen Musikmilieu wurden rein liturgische Werke, wie auch die
Werke religiösen Inhalts noch häufiger geschaffen, weil galizische ukrai-
nische Komponisten bis zum Ende des 19 Jh. meistens zum Priesterstand
gehörten: Mychajlo Werbytskyj, Iwan Lawriwskyj, Ostap Nyshankivskyj,
Wiktor Matiuk, Jossyp Kyschakewytsch u. m. a.

Eine entscheidende Säkularisierung Lemberger Musikkreise in allen
nationalen Musikvereinen und Gesellschaften kann erst in der Zwischen-
kriegsperiode beachtet werden. Sie war vor allem mit dem Streben zur Pro-

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