Page 94 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2023. Glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo ▪︎ Music societies in the long 19th century: Between amateur and professional culture. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 6
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glasbena društva v dolgem 19. stoletju: med ljubiteljsko in profesionalno kulturo

monografischen Konzerte immer populärer, z. B. jene zu weltberühmten
Komponisten wie Bach oder Beethoven, aber auch die Programme aus den
Werken der gegenwärtigen polnischen Komponisten wie z. B. Władysław
Shelenski (Żeleński) erfreuten sich großen Zuspruchs. Die Leitung und ak-
tiv wirkende Mitglieder hatten immer den Finger am Puls der Zeit. An-
fangs des 20. Jh. haben immer mehr das Kino und Varietés, nach französi-
scher Mode organisiert, das breite Publikum abgezogen. Um diesen Verlust
auszugleichen, wurden ab 1912 immer häufiger sogenannte populäre Kon-
zerte für das breite Publikum mit Schlager-Programmen veranstaltet. Ob-
wohl die Konzertprogrammen, die die Direktion des GMV auf Vorschlag
des künstlerischen Leiters bewilligte, akademische Musik von der Klassik
bis zur Moderne favorisierten, suchte man nach den populären Formen, für
die demokratischen Kreisen zugänglich. Damit hängt die Vorliebe im Re-
pertoire von der historisch-gesellschaftlichen Situation im Land. Seit den
70er Jahren des 19. Jahrhunderts, in erster Reihe nach der politischen und
kulturellen Autonomie Galiziens 1868, wann immer engeren Kreis die ös-
terreichische Intelligenz repräsentierte, und immer stärker die polnische
Bevölkerung um ihre Rechte kämpfte, nahmen die Werke polnischer nati-
onaler Komponisten den zentralen Platz in den Programmen ein.

Ganz bedeutend und zu jener Zeit schon eher außergewöhnlich scheint
die ständige Anwesenheit in der Mehrheit von Konzertprogrammen der
Kirchenmusik, entweder der westeuropäischen, wie vor allem der polni-
schen Werken mit dem religiösen Inhalt. In der Epoche der allherrschen-
den Säkularisierung könnte man diese Vorliebe als die Erscheinung der
konservativen Weltanschauung betrachten, aber für Galizien mit seinen
starken religiösen Traditionen blieben die Werke der geistigen Thematik
noch bis Zweiten Weltkrieg unentbehrlich. Ähnliche Präferenzen zeigen
andere nationale Musikgesellschaften und Vereine – z. B. der polnische Ge-
sangverein Laute (Lutnia), die ukrainische Chorgesellschaft Bojan (Боян),
der jüdische Musikverein (Żydowskie Towarzystwo Muzyczne) u. a.

In direktem Zusammenhang mit der oben genannten Funktion, be-
sonders mit der letzten erwähnten Präferenz und deren Vertiefung betrach-
tet man die nächste Funktion der geistigen und geistlichen Vereinigung,
also im breiteren und engeren Sinne. Im breiteren Sinne liegt ihr Wesen
in der Bildung von Gemeinschaften, die die höchste Freude an schöpferi-
sche Kommunikation teilen. In engerem, also im geistlichen Sinne bedeu-
tet es die Pflege religiöser Kunst in einer Ära der Säkularisierung, in der die

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