Page 62 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
P. 62
glasbena kritika – nekoč in danes | music criticism – yesterday and today
sesten Beispiel für jene „neue Form“ der symphonischen Musik, die Hugo
Wolf bei Franz Liszt verwirklicht sah.
Ein Ausschnitt aus einer Bruckner-Rezension („Bruckner-Abend, ver-
anstaltet von den Herren Ferdinand Löwe und Josef Schalk.“) soll noch do-
kumentieren, daß Wolf keineswegs ein solch glühender Verehrer dieses
Komponisten war, wie meist kolportiert wird:
Der Mangel an Intelligenz, das ist es, was uns die Bruckner’schen Sym-
phonien, bei aller Originalität, Größe, Kraft, Phantasie und Erfindung
so schwer verständlich macht. Ueberall ein Wollen, colossale Anläufe,
aber keine Befriedigung, keine künstlerische Lösung. Daraus entspringt
die Formlosigkeit seiner Werke, die scheinbare Ueberspanntheit des
Ausdruckes. Bruckner ringt noch mit der Idee und hat nicht den Muth,
dieselbe an die Spitze zu stellen und so mit klarem Bewußtsein weiter zu
schreiten. So schwankt er, halb in Beethoven, halb in den neuen Errun-
genschaften, wie sie in den symphonischen Dichtungen Franz Liszt’s
ihren vollkommensten Ausdruck gefunden, wurzelnd zwischen diesen
Beiden, ohne sich für den Einen noch den Andern entscheiden zu kön-
nen. Das ist sein Unglück. Trotzdem aber stehe ich nicht an, die Sym-
phonien Bruckner’s als die bedeutendsten symphonischen Schöpfun-
gen, die seit Beethoven geschrieben worden sind, zu bezeichnen. Es sind
Werke eines verunglückten Genies, ähnlich wie die colossalen Dich-
tungen Grabbe’s. Kühne, großartige Conceptionen sind beiden eben-
so gemein, als das Zerfahrene, Formlose in der Durchführung. Wie bei
Grabbe das Schwelgerische in der Phantasie, der geniale Gedankenflug
an Shakespeare erinnert, so meinen wir oft in den grandiosen Themen
und deren tiefsinniger Verarbeitung, wie wir sie in allen Bruckner’schen
Symphonien finden, die Sprache Beethoven’s zu vernehmen. Es lohn-
te sich also wohl die Mühe, diesem genialen Stürmer etwas mehr Auf-
merksamkeit, als dies bisher geschehen ist, zuzuwenden, und es ist ein
wahrhaft erschütternder Anblick, diesen außerordentlichen Mann aus
dem Concertsaale verbannt zu sehen, er, der unter den jetzt lebenden
Componisten (Liszt natürlich ausgenommen) den ersten und größten
Anspruch hat, aufgeführt und bewundert zu werden.26
Auch die Konzertplanung der Wiener Philharmoniker bekommt ihr
Fett ab. Dafür nimmt Wolf in dem Essay „Ein Monolog, nacherzählt von
Hugo W o l f .“27 einen Umweg um „einen Unbekannten“, der „in einer recht
26 Hugo Wolf, „Bruckner-Abend, veranstaltet von den Herren Ferdinand Löwe und Jo-
sef Schalk“, Wiener Salonblatt XV, Nr. 53 (28. Dezember 1884): 6–7.
27 Hugo Wolf, „Ein Monolog, nacherzählt von Hugo Wolf “, Wiener Salonblatt XV, Nr.
45 (1. November 1884): 6f.
62
sesten Beispiel für jene „neue Form“ der symphonischen Musik, die Hugo
Wolf bei Franz Liszt verwirklicht sah.
Ein Ausschnitt aus einer Bruckner-Rezension („Bruckner-Abend, ver-
anstaltet von den Herren Ferdinand Löwe und Josef Schalk.“) soll noch do-
kumentieren, daß Wolf keineswegs ein solch glühender Verehrer dieses
Komponisten war, wie meist kolportiert wird:
Der Mangel an Intelligenz, das ist es, was uns die Bruckner’schen Sym-
phonien, bei aller Originalität, Größe, Kraft, Phantasie und Erfindung
so schwer verständlich macht. Ueberall ein Wollen, colossale Anläufe,
aber keine Befriedigung, keine künstlerische Lösung. Daraus entspringt
die Formlosigkeit seiner Werke, die scheinbare Ueberspanntheit des
Ausdruckes. Bruckner ringt noch mit der Idee und hat nicht den Muth,
dieselbe an die Spitze zu stellen und so mit klarem Bewußtsein weiter zu
schreiten. So schwankt er, halb in Beethoven, halb in den neuen Errun-
genschaften, wie sie in den symphonischen Dichtungen Franz Liszt’s
ihren vollkommensten Ausdruck gefunden, wurzelnd zwischen diesen
Beiden, ohne sich für den Einen noch den Andern entscheiden zu kön-
nen. Das ist sein Unglück. Trotzdem aber stehe ich nicht an, die Sym-
phonien Bruckner’s als die bedeutendsten symphonischen Schöpfun-
gen, die seit Beethoven geschrieben worden sind, zu bezeichnen. Es sind
Werke eines verunglückten Genies, ähnlich wie die colossalen Dich-
tungen Grabbe’s. Kühne, großartige Conceptionen sind beiden eben-
so gemein, als das Zerfahrene, Formlose in der Durchführung. Wie bei
Grabbe das Schwelgerische in der Phantasie, der geniale Gedankenflug
an Shakespeare erinnert, so meinen wir oft in den grandiosen Themen
und deren tiefsinniger Verarbeitung, wie wir sie in allen Bruckner’schen
Symphonien finden, die Sprache Beethoven’s zu vernehmen. Es lohn-
te sich also wohl die Mühe, diesem genialen Stürmer etwas mehr Auf-
merksamkeit, als dies bisher geschehen ist, zuzuwenden, und es ist ein
wahrhaft erschütternder Anblick, diesen außerordentlichen Mann aus
dem Concertsaale verbannt zu sehen, er, der unter den jetzt lebenden
Componisten (Liszt natürlich ausgenommen) den ersten und größten
Anspruch hat, aufgeführt und bewundert zu werden.26
Auch die Konzertplanung der Wiener Philharmoniker bekommt ihr
Fett ab. Dafür nimmt Wolf in dem Essay „Ein Monolog, nacherzählt von
Hugo W o l f .“27 einen Umweg um „einen Unbekannten“, der „in einer recht
26 Hugo Wolf, „Bruckner-Abend, veranstaltet von den Herren Ferdinand Löwe und Jo-
sef Schalk“, Wiener Salonblatt XV, Nr. 53 (28. Dezember 1884): 6–7.
27 Hugo Wolf, „Ein Monolog, nacherzählt von Hugo Wolf “, Wiener Salonblatt XV, Nr.
45 (1. November 1884): 6f.
62