Page 58 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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glasbena kritika – nekoč in danes | music criticism – yesterday and today
Ueber Herrn Brüll, der als Virtuose und Componist (er spielte sein zwei-
tes Clavier=Concert) auf dem Programm figurirte, wollen wir nicht viel
Worte verlieren; wenn wir uns dahin aussprechen, daß sein Spiel min-
destens so uninteressant ist, als seine Composition langweilig, so läuft
das so ziemlich auf Eins hinaus – Dutzendarbeit!
Wenden wir uns zu einem anderen Virtuosen und Componisten: D.
Popper. Er hat Renommé und das Publikum respectirt dasselbe, beson-
ders wenn er falsch spielt. Er gebietet über hübsche Kunststücke, miß-
braucht sie aber zumeist und verkennt ganz und gar den Charakter
seines Instrumentes, wenn er glaubt, auf seinem Violoncell durchaus
Violine spielen zu müssen. Er componirt auch recht hübsch und sein
Spinnlied, abwechselnd auf dem Cello und der Violine gespielt, müßte
sich recht artig ausnehmen. Da er aber vorzieht, es ganz allein auf dem
Cello zu spielen, so wimmert, quickt und winselt es in der höchsten Ap-
plicatur, daß man alles eher, denn ein Spinnlied zu vernehmen glaubt.18
Hugo Wolf sprang also, und deshalb habe ich mich so lange bei sei-
nen ersten zwei Artikeln aufgehalten, sofort in die Arena der bekannter-
maßen sowohl umstrittenen als auch von mannigfaltigen Vorlieben für
prominente Künstler geprägten Musikszene und scheute sich nicht, so-
wohl anerkannte Komponisten als auch umjubelte Virtuosen schonungslos
und mit kräftiger Feder zu kritisieren. Leider sind just diese ersten Kriti-
ken unseres jungen Rezensenten in dem auch ansonsten keineswegs ver-
dienstvollen Band Hugo Wolf. Vom Sinn der Töne. Briefe und Kritiken nicht
enthalten. – Zudem fälscht der Herausgeber dieses Bandes bedenkenlos
Hugo Wolfs Schreibweisen, läßt, wenn Wolf (am 27. April 1884) von „jäm-
merlichen Epigonen“ spricht, das Wort „jämmerlichen“ aus und, besonders
schlimm, macht auch aus „Symphonien“ und „symphonischen Dichtun-
gen“ immer neudeutsche „Sinfonien“ und „sinfonische Dichtungen“. Und
somit sind auch Hugo Wolfs musikästhetische Anschauungen gnadenlos
verzerrt, wenn nicht sogar verfälscht.
Wieder zurück zu unserem Autor: Man muß bedenken, daß Hugo
Wolf damals noch keine 24 Jahre zählte und eigentlich ein erfolgloser Stu-
dienabgänger war, der wegen eines disziplinären Vergehens vorzeitig aus
dem Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde entlassen worden
war. Und Wolf griff dann sehr bald, am 27. April 1884,19 auch in den damals
18 Ibid.
19 Rubrik „Musik.“, Artikel „Oper und Concerte.“, Wiener Salonblatt XV, Nr. 17 (27.
April 1884): 10ff.
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Ueber Herrn Brüll, der als Virtuose und Componist (er spielte sein zwei-
tes Clavier=Concert) auf dem Programm figurirte, wollen wir nicht viel
Worte verlieren; wenn wir uns dahin aussprechen, daß sein Spiel min-
destens so uninteressant ist, als seine Composition langweilig, so läuft
das so ziemlich auf Eins hinaus – Dutzendarbeit!
Wenden wir uns zu einem anderen Virtuosen und Componisten: D.
Popper. Er hat Renommé und das Publikum respectirt dasselbe, beson-
ders wenn er falsch spielt. Er gebietet über hübsche Kunststücke, miß-
braucht sie aber zumeist und verkennt ganz und gar den Charakter
seines Instrumentes, wenn er glaubt, auf seinem Violoncell durchaus
Violine spielen zu müssen. Er componirt auch recht hübsch und sein
Spinnlied, abwechselnd auf dem Cello und der Violine gespielt, müßte
sich recht artig ausnehmen. Da er aber vorzieht, es ganz allein auf dem
Cello zu spielen, so wimmert, quickt und winselt es in der höchsten Ap-
plicatur, daß man alles eher, denn ein Spinnlied zu vernehmen glaubt.18
Hugo Wolf sprang also, und deshalb habe ich mich so lange bei sei-
nen ersten zwei Artikeln aufgehalten, sofort in die Arena der bekannter-
maßen sowohl umstrittenen als auch von mannigfaltigen Vorlieben für
prominente Künstler geprägten Musikszene und scheute sich nicht, so-
wohl anerkannte Komponisten als auch umjubelte Virtuosen schonungslos
und mit kräftiger Feder zu kritisieren. Leider sind just diese ersten Kriti-
ken unseres jungen Rezensenten in dem auch ansonsten keineswegs ver-
dienstvollen Band Hugo Wolf. Vom Sinn der Töne. Briefe und Kritiken nicht
enthalten. – Zudem fälscht der Herausgeber dieses Bandes bedenkenlos
Hugo Wolfs Schreibweisen, läßt, wenn Wolf (am 27. April 1884) von „jäm-
merlichen Epigonen“ spricht, das Wort „jämmerlichen“ aus und, besonders
schlimm, macht auch aus „Symphonien“ und „symphonischen Dichtun-
gen“ immer neudeutsche „Sinfonien“ und „sinfonische Dichtungen“. Und
somit sind auch Hugo Wolfs musikästhetische Anschauungen gnadenlos
verzerrt, wenn nicht sogar verfälscht.
Wieder zurück zu unserem Autor: Man muß bedenken, daß Hugo
Wolf damals noch keine 24 Jahre zählte und eigentlich ein erfolgloser Stu-
dienabgänger war, der wegen eines disziplinären Vergehens vorzeitig aus
dem Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde entlassen worden
war. Und Wolf griff dann sehr bald, am 27. April 1884,19 auch in den damals
18 Ibid.
19 Rubrik „Musik.“, Artikel „Oper und Concerte.“, Wiener Salonblatt XV, Nr. 17 (27.
April 1884): 10ff.
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