Page 59 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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hugo wolf als musikkritiker im „streitbaren“ wien der 1880er jahre
so emotional geführten Streit zwischen den Parteigängern der „neudeut-
schen“ Ästhetik eines Liszt, Wagner oder auch Bruckner sowie den Ver-
fechtern des „Neoklassizismus“ eines Brahms ein. Ausgangspunkt ist Liszts
Symphonische Dichtung „Tasso“; ich zitiere:
Wie wird mir warm um’s Herz, wenn in einer Zeit, wo fortwährend
Symphonien, Suiten, Serenaden u. dgl. Zeugs mehr wie Unkraut aus
dem unfruchtbaren Boden der absoluten Musik emporwuchern, eine
symphonische Dichtung von Liszt mir am Programme entgegenleuch-
tet! Liszt und symphonische Dichtung! Das ist für die Zöpfe und Mu-
sikzünftigen das: Hannibal ante portas. Ihr lieben Leute, was schreckt
euch denn so, wenn ihr eine symphonische Dichtung und den Schöp-
fer derselben am Programme erblickt? Die Beckenschläge doch nicht,
an denen übrigens noch kein Mensch gestorben ist [...] die Beckenschlä-
ge allein können es nicht sein, die euch stutzen machen, denn das bloße
Wort „symphonische Dichtung“ treibt euch schon den Angstschweiß
auf die Stirne. [...] Wollt ihr heute Symphonien haben, wie sie Beethoven
geschrieben, dann verrückt unser Jahrhundert, erweckt den Meister
von den Todten, aber setzt nicht unsere jämmerlichen Epigonen, diese
mit der classischen Form geschminkten und mit dem classischen Geist
coquettirenden impotenten Symphonienschreiber der Gegenwart, an
seine Stelle. [...] Wie denn, wenn Liszt kein Programm euch böte, er eu-
rem scharfsinnigen Witz nicht zu Hilfe käme mit einem poetisch ab-
gefaßten Vorworte, würdet ihr auch dann noch mit triumphirender
Miene erzählen, daß ihr haarspalterischen Leute durch die überaus cha-
rakteristische Musik im „Mazeppa“ erfahren habt, wieviel Haare der
Schweif des Pferdes, daran Mazeppa gebunden war, enthalten? [...] Bil-
det ihr euch nicht ein, daß in der eroica [...] die schwarzen Hußaren
gegen einen Trupp Kürassiere, oder Uhlanen und Infanterie gegenein-
ander anstürmen, Napoleon Bonaparte sich schneuzt, kratzt oder hus-
tet, befiehlt, reitet, mit den Augen zwinkert und ähnliche Albernheiten
mehr? Wollt ihr nicht eine ländliche Hochzeit mit allem nöthigen Zuge-
hör durch vier Sätze hindurch in der 7. Symphonie erkennen? Und dieß
Alles ohne Programm!!! Es ist doch schade, daß Beethoven nicht so lie-
benswürdig und gefällig dem Publikum sich erwiesen, wie Franz Liszt.
Nun muß man schon selber sein Hirn anstrengen und sich eine hübsche
Geschichte auf so eine Beethoven’sche Symphonie erfinden. Aber das
Fatale daran ist der Umstand, daß Jeder seine eigene Geschichte für die
richtige hält [...]. Aus all’ dem ersieht man, daß wir Fr. Liszt für das ge-
botene Programm nur dankbar sein können. Was nun Liszt’s Musik an-
belangt, so ist dieselbe allerdings mehr geist= als gefühlvoll, aber auch
schwung=, feurig=phantasievoll und immer plastisch. Sind die Themen
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so emotional geführten Streit zwischen den Parteigängern der „neudeut-
schen“ Ästhetik eines Liszt, Wagner oder auch Bruckner sowie den Ver-
fechtern des „Neoklassizismus“ eines Brahms ein. Ausgangspunkt ist Liszts
Symphonische Dichtung „Tasso“; ich zitiere:
Wie wird mir warm um’s Herz, wenn in einer Zeit, wo fortwährend
Symphonien, Suiten, Serenaden u. dgl. Zeugs mehr wie Unkraut aus
dem unfruchtbaren Boden der absoluten Musik emporwuchern, eine
symphonische Dichtung von Liszt mir am Programme entgegenleuch-
tet! Liszt und symphonische Dichtung! Das ist für die Zöpfe und Mu-
sikzünftigen das: Hannibal ante portas. Ihr lieben Leute, was schreckt
euch denn so, wenn ihr eine symphonische Dichtung und den Schöp-
fer derselben am Programme erblickt? Die Beckenschläge doch nicht,
an denen übrigens noch kein Mensch gestorben ist [...] die Beckenschlä-
ge allein können es nicht sein, die euch stutzen machen, denn das bloße
Wort „symphonische Dichtung“ treibt euch schon den Angstschweiß
auf die Stirne. [...] Wollt ihr heute Symphonien haben, wie sie Beethoven
geschrieben, dann verrückt unser Jahrhundert, erweckt den Meister
von den Todten, aber setzt nicht unsere jämmerlichen Epigonen, diese
mit der classischen Form geschminkten und mit dem classischen Geist
coquettirenden impotenten Symphonienschreiber der Gegenwart, an
seine Stelle. [...] Wie denn, wenn Liszt kein Programm euch böte, er eu-
rem scharfsinnigen Witz nicht zu Hilfe käme mit einem poetisch ab-
gefaßten Vorworte, würdet ihr auch dann noch mit triumphirender
Miene erzählen, daß ihr haarspalterischen Leute durch die überaus cha-
rakteristische Musik im „Mazeppa“ erfahren habt, wieviel Haare der
Schweif des Pferdes, daran Mazeppa gebunden war, enthalten? [...] Bil-
det ihr euch nicht ein, daß in der eroica [...] die schwarzen Hußaren
gegen einen Trupp Kürassiere, oder Uhlanen und Infanterie gegenein-
ander anstürmen, Napoleon Bonaparte sich schneuzt, kratzt oder hus-
tet, befiehlt, reitet, mit den Augen zwinkert und ähnliche Albernheiten
mehr? Wollt ihr nicht eine ländliche Hochzeit mit allem nöthigen Zuge-
hör durch vier Sätze hindurch in der 7. Symphonie erkennen? Und dieß
Alles ohne Programm!!! Es ist doch schade, daß Beethoven nicht so lie-
benswürdig und gefällig dem Publikum sich erwiesen, wie Franz Liszt.
Nun muß man schon selber sein Hirn anstrengen und sich eine hübsche
Geschichte auf so eine Beethoven’sche Symphonie erfinden. Aber das
Fatale daran ist der Umstand, daß Jeder seine eigene Geschichte für die
richtige hält [...]. Aus all’ dem ersieht man, daß wir Fr. Liszt für das ge-
botene Programm nur dankbar sein können. Was nun Liszt’s Musik an-
belangt, so ist dieselbe allerdings mehr geist= als gefühlvoll, aber auch
schwung=, feurig=phantasievoll und immer plastisch. Sind die Themen
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