Page 60 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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glasbena kritika – nekoč in danes | music criticism – yesterday and today

in unseren berühmten neuen Symphonien plastisch? In der Regel nicht
[...].20
Spezielles Lob erfährt Liszt dann noch, weil er im Gegensatz zu Hector
Berlioz auch auf dem Gebiet der Form zu neuen Ufern schritt:
Was Lißt [!]21 jedoch vor Berlioz voraus hat, ist, daß er mit größter Si-
cherheit eine neue Form geschaffen, indem er die poetische Idee mit Be-
wußtsein an die Spitze stellte und, um dieselbe künstlerisch durchzu-
führen, ganz selbstverständlich von der hergebrachten symphonischen
Form abweichen mußte, da er [...] die musikalische Form von dem In-
halt der dichterischen Vorlage abhängen zu lassen sich veranlaßt fand.22
Wolf bezog sich hier ganz offensichtlich nicht zuletzt auf Franz Liszts
Schrift „Berlioz und seine Harold-Symphonie“, in welcher Liszt die her-
kömmliche traditionelle Form der Symphonie verwarf und an Stelle des-
sen postulierte, der programmatische Inhalt eines Werkes müsse auch die
Form bestimmen. Genau so argumentierte auch Hugo Wolf:
Der Inhalt der dichterischen Idee war also nicht, wie bei Berlioz, nur
auf den musikalischen Gehalt, sondern wie bei Lißt auch auf die Form
von bestimmendem Einfluß. [...] So originelle, kühn und genial erfun-
dene Schöpfungen, – als die Lißt’s, werden jedoch von unsern Kritikern
mit souveräner Verachtung, oder mit einer mitleidig spöttelnden Be-
merkung abgethan, während die Leimsiedereien, diese ekelhaft schaa-
len, im Grunde der Seele verlogenen und verdrehten Symphonien von
Brahms als Weltwunder von ihnen gepriesen werden. Wer da ruhig
bliebe! In einem einzigen Beckenschlage aus einem Lißt’schen Werke
drückt sich mehr Geist und Empfindung aus als in allen drei Brahms’-
schen Symphonien, und seinen Serenaden obendrein. Ueberhaupt Lißt
und Brahms vergleichen! Das Genie mit dem Epigonen eines Epigonen!
Den Königsadler mit dem Zaunkönig! – Genug davon.23
Wolfs Brahms-Kritik bezieht sich, das sei zu seiner Ehre gesagt, aller-
dings nur auf die „klassizistische“ Form seiner Orchesterwerke, während er
sehr wohl anderen Werken des Komponisten Lob zukommen läßt. So fin-
det er am 3. April 1887 für „Brahms’ tiefempfundenes und durchweg stim-
20 Ibid., 11.
21 Da das „ß“ in der deutschen Kurrent-Schrift (wie auch in der Sütterlin-Schrift) aus
einem „langen s“ und einem angehängten „z“ besteht, also de facto ein „sz“ ist (und
in Teilen Deutschlands bis heute so genannt wird), wird Liszt hier (auch) „Lißt“ ge-
schrieben.
22 Wolf, „Musik. Oper und Concerte“, 27. April 1884, 11.
23 Ibid., 11–2.

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