Page 61 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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hugo wolf als musikkritiker im „streitbaren“ wien der 1880er jahre

mungsvolles Lied ‚Von ewiger Liebe‘“ lobende Worte, wenngleich auch hier
bald der zu erwartende Seitenhieb folgt:

Mit Recht gilt dieses Lied als das Beste, was Brahms in dieser Gattung
geschaffen. Man möchte kaum glauben, daß derselbe Componist, der
dieses herrliche Lied gesungen, vier Symphonien schreiben konnte, de-
ren lächerliche Ernsthaftigkeit, ein Muster unfreiwilligen Humors, der
Welt als ein heiteres Andenken an den verheißenen Messias erhalten zu
bleiben verdient.24
Lassen wir die deutlich überzogenen Angriffe auf das symphonische
Schaffen von Johannes Brahms, die gleichzeitig eine Verteidigung der
Kompositions-Ästhetik unseres Autors sind, kurz beiseite; vielmehr wollen
wir in diesem Zusammenhang überlegen, wo die in diesen Äußerungen als
wünschenswert bzw. notwendig erachtete formale Gestaltung einer sym-
phonischen Dichtung tatsächlich durch den außermusikalischen „Inhalt“,
das „poetische Programm“ bestimmt wurde, so ist es neben einigen sym-
phonischen Dichtungen von Franz Liszt insbesondere ein Werk, das die-
sem Ideal voll und ganz entspricht: die symphonische Dichtung Penthesilea
von Hugo Wolf selbst, die ich persönlich höher einschätze als vergleichba-
re symphonische Dichtungen von Richard Strauss. Und ich kann nicht um-
hin, einmal mehr die unglaubliche Gedankenlosigkeit der internationalen
Konzertveranstalter anzuklagen, dieses grandiose Schlüsselwerk für die
Idee einer tatsächlich inhaltsbestimmten symphonischen Dichtung nicht
regelmäßig auf ihre Programme zu setzen. Ohne die Programmierung der
Laibacher Orchesterkonzerte der letzten 35 Jahre in ihrem gesamten Um-
fang zu kennen, muß ich anmerken, daß ich seit meiner Teilnahme an den
Symposien des hiesigen Festivals, also seit 1987, Hugo Wolfs Penthesilea
hier nie gehört habe. (Auch in Wien stand das Werk in diesem Zeitraum
nur einmal auf einem Konzertprogramm.) Wolf hat in dieser symphoni-
schen Dichtung drei Szenen des Kleistschen Dramas musikalisch „nach-
gezeichnet“, die musikalische Form dem Ablauf der dichterischen Szenen
nachgebildet und zum Teil sogar die Metren und den Tonfall des Textes
in seine Musik übernommen.25 Und so wird die Penthesilea zum grandio-
24 Hugo Wolf, „Musik“, Wiener Salonblatt XVIII, Nr. 14 (3. April 1887): 10.
25 Zu diesem Werk siehe: Hartmut Krones, „,Er hatte sich gleichsam mit seinem gan-
zen Körper in das Wort des Dichters verwandelt!‘ Hugo Wolfs ,Penthesilea‘ als Mu-
sik gewordene Dichtung“, in Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 13, Hrsg.
Constantin Floros, Hans Joachim Marx, Peter Petersen, Wolfgang Dömling, Annet-
te Kreutziger-Herr (Laaber: Laaber, 1995), 201–21.

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