Page 57 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2024. Glasbena kritika – nekoč in danes ▪︎ Music Criticism – Yesterday and Today. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 7
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hugo wolf als musikkritiker im „streitbaren“ wien der 1880er jahre

Der richtige Franz Schubert, wie wir ihn lieben und verehren, ist in der
jüngst gehörten Symphonie noch lange nicht zu entdecken, im Gegen-
theil hier tritt der große Tondichter als schwächlicher Nachahmer sei-
nes ihm später so antipathischen Rivalen Weber, dort gar als Copist
Rossini’s auf, unverfälscht Schubert’sches Blut pulsirt nur in dem frisch
aufstürmischen Scherzo mit seiner in die Ohren fallenden Reminiszenz
an den bekannten von Liszt orchestrirten Reitermarsch. Dabei geht die-
se Schubert’sche Symphonie von Anfang bis Ende in einer unbarmher-
zigen Heiterkeit fort, so daß wir uns schließlich bei ihrer Anhörung wie
Heine’s „Tannhäuser“ ernsthaft nach – Bitternissen sehnen.15
Bereits in der nächsten Nummer vom 27. Jänner 1884, zeichnet Hugo
Wolf mit seinem vollen Namen, und diesmal ist es in der Rubrik „Musik“
eine Sammelkritik „Concerte und Oper.“, die Lob und Tadel vereint. Zu-
nächst spendet er dem „philharmonischen Orchester“ hohes Lob:
Diesem vielköpfigen Virtuosen, der sich hinwiederum mit seinem ge-
nialen Kapellmeister Hans Richter zu einer unvergleichlich harmo-
nischen Einheit concentrirt, können wir auf die im höchsten Gra-
de bewunderungswürdige Wiedergabe der Mendelsohn’schen Musik
zum Sonmernachtstraum hier nicht genug Lob spenden. Die Ausfüh-
rung dieser genialen Composition ist und bleibt ein Kabinetsstück der
Philharmoniker.16
Und beinahe noch höher stellt Wolf „die Zauber des Berlioz’schen Or-
chesters“ in dessen Ouverture „Le carnaval romain“
mit einer wundersüßen kleinen Prinzessin, die sie in ihrem Uebermuth
entführt und die nun darob betrübt in der rührenden des-Moll-Kla-
ge der zärtlichen Hoboe ihren kindlichen Schmerz aushaucht und, wie
ein Kind, auch gleich hernach an dem munteren Getriebe ihrer lustigen
Entführer sich ergötzt. In diesem instrumentalen Virtuosenstück hat
Berlioz durch liebevolles Versenken in das kerndeutsche Wesen Weber’s
seiner schwärmerischen Verehrung für den Componisten des „Frei-
schütz“ den schönsten Ausdruck verliehen.17
Nach einigem Lob für die Sängerin Bianca Bianchi (eigentlich Bertha
Schwarz) und den philharmonischen Konzertmeister Arnold Rosé erfah-
ren dann Ignaz Brüll und David Popper köstliche Verrisse:
15 Ibid.
16 Hugo Wolf, „Musik. Concerte und Oper“, Wiener Salonblatt XV, Nr. 5 (27. Jänner
1884): 10.
17 Ibid.

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