Page 249 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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analyse des rhythmus als mittel der interpretation ...
            sich gegenüber der linken freier bewegen. Anders ausgedrückt: Das ruba-
            to in der rechten Hand ohne eine Auswirkung auf die linke macht das oben
            erwähnte „ältere“ rubato in der Terminologie Hudsons aus. Durch diese
            Möglichkeit der freien Gestaltung der Melodielinie sowie durch die Hand-
            gelenkimpulse auf jedem Ton, die am Anfang durch die langen Akzente
            nahegelegt werden, entsteht außerdem eine deklamierende Wirkung, die
            zum Charakter der Fantasie, die bei Chopin als ein narratives Werk konzi-
            piert ist, beiträgt. 19












            Notenbeispiel 5: Fantasie in f-Moll, op. 49, T. 68–72.

                 Das „ältere“ rubato, und zwar in das Werk hineinkomponiert, ist auch
            bei jenen besonderen Synkopen feststellbar, bei denen ein Ton der Melo-
                                                                      20
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            die vorweggenommen wird – in der Literatur (von Hudson , Rittner
                      22
            und Ekier ) ist das Phänomen ausführlich beschrieben. Die Konnota-
            tion des rubato bei solchen Stellen weist auf die expressive Funktion die-
            ser Erscheinung hin und legt eine rhythmisch freiere, sogar „aufgereg-
            te“, „ungeduldige“ oder „kurzatmige“ Aufführung dieses Tons nahe, aber
            auch eine grundsätzlich freiere Handhabung der Rhythmik in der umge-
            benden Stelle. Es handelt sich ohnehin um eine rubatoartige Erscheinung,
            welcher somit eine rhythmische Freiheit innewohnt, und die genauen No-
            tenwerte müssen demnach nicht exakt befolgt werden. Dies ist exemplifi-
            zierend in der dritten Ballade (Notenbeispiel 6) zu sehen, wo der Effekt des
            Vorziehens des Akkordes mit dem Melodieton f‘‘ um eine Achtel in T. 138
            19   Das Werk ist, wie etwa die Polonaise-Fantasie oder die Balladen, als Ganzes narrativ
                 konzipiert, mit einer erzählerischen Einleitung, verschiedenen „Szenen“, ständigen
                 Weiterentwicklungen der Themen usw.
            20   Hudson,  Stolen Time, 167.
            21   Hardy Rittner, Die vergessene Cantilene: Frédéric Chopins missverstandene Virtuosi-
                 tät. Grundlagen der Aufführungspraxis (Kassel, Basel, London, New York, Praha: Bä-
                 renreiter, 2022), 93.
            22   Jan Ekier, Introduction to the Polish National Edition of the Works of Fryderyk Cho-
                 pin (Warszawa, Krakow: Fundacja Wydania Narodowego Dzieł Fryderyka Chopina
                 / Polskie Wydawnictwo Muzyczne, 2012), 65–8.


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