Page 248 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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            des zweiten Schlags sorgt hier Chopin selbst: Die Harmonieänderung zum
            H-Dominantseptakkord mit dem tiefen Bass schließt jegliche metrische
            Versetzung aus, und die neueinsetzende Mittelstimme unterstützt dies
            noch weiter. Ein leichter Impuls auf diesem H und das ganz leichte Hervor-
            heben der Mittelstimme genügen, um diese bereits hineinkomponierten
            Merkmale im Sinne des Erhalts des Metrums zu unterstreichen. Vielmehr
            besteht die Gefahr, dass die kurzen Töne durch eine stärkere Betonung den
            langen Ton, den sie begleiten (das synkopierte gis‘‘) übertönen und eine
            nachvollziehbare Führung zum fis‘‘ verunmöglichen. Es ist also erkennbar,
            dass eine Balance der Stimmen und Ereignisse bei der Ausführung ent-
            scheidend ist.












            Notenbeispiel 4: Nocturne in cis-Moll, op. 27 Nr. 1, T. 89.
                 Eine Besonderheit stellen Synkopenketten dar, bei denen die Gefahr
            des Eindrucks der metrischen Versetzung (und somit die Wichtigkeit der
            Wahrung des Takt-Pulses) noch größer wird, wie in T. 68ff. der Fantasie
            (Notenbeispiel 5) zu beobachten ist. Dass die linke Hand ein metrisches
            Gegengewicht zur synkopisch versetzten rechten Hand darstellt und in-
            terpretatorisch aufgewertet werden sollte, zeigt Chopin durch die Nota-
            tion des Basses in halben Noten am Anfang der Stelle. Die Expressivität
            ist ferner durch das agitato deutlich markiert und durch die Polyrhyth-
            mik potenziert. Dammeier-Kirpal schreibt (über T. 26 der ersten Sonate),
            dass der Takt durch eine Synkopenkette „etwas rubatoartig Freischweben-
                      18
            des erhält“.  Der Hinweis ist auch hier anwendbar: Das „Freischwebende“
            kommt unter anderem dadurch zustande, dass die rechte Hand niemals
            mit dem starken Schlag zusammenfällt, wie das bei einer normalen Synko-
            pe der Fall ist. Darüber hinaus fällt die rechte Hand (ab T. 69) anhand des
            Polyrhythmus fast nie mit einem Ton der linken Hand zusammen. Durch
            die ohnehin gegebene Asynchronität der Töne ist es möglich, stärkere Ab-
            weichungen vom notierten Rhythmus vorzunehmen; die rechte Hand kann
            18   Ursula Dammeier-Kirpal, Der Sonatensatz bei Frédéric Chopin (Wiesbaden: Breit-
                 kopf & Härtel, 1973), 21.


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