Page 60 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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nova glasba v »novi« evropi med obema svetovnima vojnama

Doflein lud Adorno 1952 zu einer Tagung des Instituts für Neue Musik und
Musikerziehung nach Darmstadt ein. Wo Fritz Jöde noch nach altem mu-
sischen Muster das obligatorische gemeinsame Morgensingen leitete und
insgesamt die Vertreter der Jungendmusikbewegung wie Siegfried Borris,
Wilhelm Ehmann, Felix Oberborbeck, Wilhelm Twittenhoff und Gottfried
Wolters den Ton angaben, trug Adorno seine Fundamentalkritik vor. Er ar-
beitete sie in den nächsten Jahren aus, es entstanden die Aufsätze „Thesen
gegen die musikpädagogische Musik“ (1954), „Kritik des Musikanten“ (1956)
und „Zur Musikpädagogik“ (1957).12 Die Position, die Adorno der „fremd-
bestimmten“ Musik des aktivistischen Musikantentums und der Gemein-
schaftsbildung entgegenstellte, war die des authentischen Kunstwerks im
emphatischen Sinne fortschrittlichen Komponierens, wie er sie in der soge-
nannten „Wiener Schule“ verwirklicht sah. (Der Begriff ist wesentlich von
Adorno geprägt worden und enthält den Korrespondenzgedanken der Wie-
ner Klassik.)

Den Vorwurf, einen unangemessenen Kultus in kunstreligiösem Sin-
ne mit der Musik zu betreiben, erhob Adorno nicht. Er kam aus den Reihen
der Jugendmusikbewegung selbst, als Theodor Warner 1954 in seinem Buch
Musische Erziehung zwischen Kult und Kunst den Pseudokult und Eklekti-
zismus der Jugendbewegung anprangerte.13 Wie stark Adorno dagegen ei-
nem religiös geprägten, emphatischen Kunstbegriff verhaftet blieb, darauf
verweist sein Angriff auf „die unheilige Nüchternheit der versierten Musik-
pädagogik“.14 Damit spielt Adorno auf einen Begriff an, den Stefan Zweig
1925 in die Debatte geworfen hatte, als er auf Nietzsches späte Wagner-Kri-
tik zu sprechen kam, in der nicht mehr die Trunkenheit regiere, sondern
„nach Hölderlins herrlichem Wort die ‚heilige Nüchternheit‘: ‚Musik als
Erholung, nicht als Aufregungsmittel.‘“15 Die Wortschöpfung geht auf Höl-
derlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ zurück: „Und trunken von Küssen /
Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser.“16 Sie taucht auch bei Cle-

12 Wilfried Gruhn, Geschichte der Musikerziehung. Eine Kultur- und Sozialgeschichte
vom Gesangunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung,
2. Aufl. (Hofheim: Wolke, 2003), S. 290f.

13 Theodor Warner, Musische Erziehung zwischen Kunst und Kult (Berlin-Darmstadt:
Merseburger, 1954).

14 Theodor W. Adorno, „Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt“, in: Ders., Ge-
sammelte Schriften, Bd. 14 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973), S. 117.

15 Stefan Zweig, Hölderlin - Kleist - Nietzsche: Der Kampf mit dem Dämon (Leipzig
1925, Hamburg: Severus, 2014), S. 232. Stefan Zweig - Gesammelte Werke, 5. Aufla-
ge, S. 4962.

16 Friedrich Hölderlin, „Gedichte 1800-1804“, in: Ders., Sämtliche Werke. Kleine Stuttgar-
ter Ausgabe, hrsg. von Friedrich Beissner (Stuttgart: Cotta, 1946–1962), Bd. 2, S. 121.

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