Page 61 - Weiss, Jernej, ur. 2018. Nova glasba v “novi” Evropi med obema svetovnima vojnama ?? New Music in the “New” Europe Between the Two World Wars. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 2
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heilige nüchternheit. der komponist in der moderne ...

mens Brentano auf: „Aber es tauchet der Schwan ins heilignüchterne Was-
ser / Trunken das Haupt, und singt sterbend dem Sternbild den Gruß.“17
Sie stammt aus dem orthodoxen Christentum, wo die Philokalie der heili-
gen Väter der Nüchternheit eine Anthologie von mystischen Schriften frü-
her Asketen, Mönche und Kirchenväter beinhaltet.18 Nicht zufällig hat auch
der am geistigen Leben der Zwischenkriegszeit als jüdischer Religionsphi-
losoph lebhaft beteiligte Ernst Simon den Begriff reflektiert,19 ebenso Jo-
hannes R. Becher.20 Tatsächlich bildet er ein Oxymoron, da Heiligkeit eine
gewisse Emphase beinhaltet, die der Nüchternheit gerade widerspricht. In
diesem Sinne hat Schopenhauer dem Genie alle Nüchternheit abgespro-
chen, „als welche gerade darin besteht, daß man in den Dingen nichts wei-
ter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere möglichen Zwe-
cke, wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner Mensch ein Genie
seyn.“21 Genauso verwendet Adorno den Begriff, wenn er Hindemith eine
„eingeborene Nüchternheit“ zuspricht und damit das Spätwerk diffamiert.22
Diese Kritik kann nur von einem Vertreter älterer romantischer Musikan-
schauung kommen, der den Geltungsanspruch der neuen Sachlichkeit ver-
kennt bzw. nicht anzuerkennen bereit ist. Es ist nicht ein Kampf um Auf-
klärung und Entmythologisierung, nein, es ist ein Kampf um die richtigen
Götter, ein Religionskrieg in der Sphäre, in der ich die Musik als Kunstreli-
gion der Moderne bezeichne.

Theodor Warner hat den Kultcharakter der aus der Jugendbewegung
hervorgegangenen musischen Erziehung bereits frühzeitig benannt und
heftig kritisiert. Seine Ausführungen sind ohne Auswirkung geblieben, ge-
rade auch im Vergleich mit der nur kurz später verbreiteten Kritik Adornos.
Ich interpretiere dies so, dass die gesellschaftliche Akzeptanz der Musik

17 Clemens Brentano, „Ausgewählte Gedichte“, in: Ders., Werke, hrsg. von Friedhelm
Kemp, 4 Bde. (München: Hanser, [1963–1968]), S. 278.

18 Nach Walter Nigg müsste der Titel wiederzugeben sein mit: „Die Liebe der heilig
Nüchternen zur geistigen Schönheit.“

19 Ernst Simon, „Heilige Nüchternheit (1964)“, in: Ders., Brücken. Gesammelte Aufsät-
ze (Heidelberg: L. Schneider, 1965), S. 466–470.

20 Johannes R. Becher, Macht der Poesie (1955), siehe Wulf Koepke, „Hölderlin in einer
gottverlassenen Zeit“, in Ästhetiken des Exils, hrsg. von Helga Schreckenberger (Am-
sterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 54) (New York: Rodopi, 2003), S. 209-
234.

21 Arthur Schopenhauer, „Die Welt als Wille und Vorstellung“, in: Ders., Werke in zehn
Bänden, Bd. 4 (Zürich: Hanser, 1977), S. 461.

22 Theodor W. Adorno, „Ad vocem Hindemith. Eine Dokumentation“, in: Ders., Ge-
sammelte Schriften, Bd. 17, Musikalische Schriften, Bd. 4 (Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp, 1982), S. 240.

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