Page 87 - Weiss, Jernej, ur. 2019. Vloga nacionalnih opernih gledališč v 20. in 21. stoletju - The Role of National Opera Houses in the 20th and 21st Centuries. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 3
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die wiener volksoper als „nationale spielstätte“

Ich würde an ihrer Stelle schon aus geschäftlichen, praktischen
Rücksichten vor allem trachten, mir die Sympathie des Stammpu-
blikums, das dieses Theater gebaut hat, nicht zu verscherzen und
auch das Wohlwollen derjenigen Blätter, die seinerzeit hauptsäch-
lich sich um das Zustandekommen des Unternehmens verdient
gemacht haben, zu gewinnen suchen; denn man muß als unpar-
teiischer, vernünftiger Mensch begreifen, daß diejenigen, die das
Theater ausschließlich mit ihrem Geld erbaut haben, auch in dem-
selben in erster Linie berücksichtigt werden wollen. Theaterstücke
mit verhetzender Tendenz wurden niemals verlangt – wohl aber
verlangt das Stammpublikum dieses Theaters, daß diese von deut-
schen Wiener Bürgern geschaffene Bühne auch in deutschem Geiste
geleitet werde und heimatliche deutsche Dichter bevorzugt werden.

Und schließlich zitiert das „Deutsche Volksblatt“ die „Ostdeutsche
Rundschau“:

Man kann es wohl als tollkühnes Unterfangen bezeichnen, ein The-
ater, das ausschließlich von deutschen Wiener Bürgern erbaut wur-
de und das als Stadttheater Eigentum der derzeit antiliberalen Ge-
meinde Wien ist, ganz entgegen den Absichten seiner Gründer der
liberalen Theaterclique ausliefern zu wollen. Hatte schon Müller=-
Guttenbrunn durch seine heimischen Annäherungsversuche an die
liberalen Blätter das Stammpublikum des Jubiläumstheaters ver-
stimmt, so steigerte der neue Direktor die Verstimmung zur Em-
pörung, als er durch die Wahl seines Eröffnungsstücks demonstra-
tiv den internationalen Kurs aufnahm und dem Bückling vor den
Judäomagyaren einen vor der tschechischen Afterkunst folgen ließ.
Die natürliche Folge davon war der Boykott des Theaters durch sein
Stammpublikum.

Es ist also unzweifelhaft erwiesen, daß mit dem sogenannten ,ob-
jektiven‘, das heißt mit dem internationalen Standpunkt an dieser
Bühne nichts zu machen ist, und wenn die liberalen Blätter von ei-
ner Niederlage des ,antisemitischen Theaters‘ faseln, so soll das of-
fenbar die Tatsache verschleiern, daß es gerade das internationa-
l=liberale Programm war, das unter der kurzen Zeit der Direktion
Rainer Simons im Jubiläumstheater eine unzweifelhafte Niederla-
ge erlitten hat. Trotz Mendelssohns gab es da die Abende, wo in
die Theaterkasse nicht mehr als 100 K. eingegangen waren. Zahlen
beweisen.

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