Page 85 - Weiss, Jernej, ur. 2019. Vloga nacionalnih opernih gledališč v 20. in 21. stoletju - The Role of National Opera Houses in the 20th and 21st Centuries. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 3
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die wiener volksoper als „nationale spielstätte“

Am 13. September lesen wir dann, daß sich die Direktion erstmals als
„die Direktion des Stadttheaters und der Volksoper“49 bezeichnete, am 19.
September legte der soeben gegründete, zusammen mit dem „alten“ Chor
140 Personen aufweisende „Chor der Volksoper“ „seine erste Probe ab“50
und wirkte bei der Oper „Preciosa“ von Carl Maria von Weber mit – mit
durchaus achtbarem Erfolg;51 sogar die „Reichspost“ zeigte sich rundum
zufrieden.52 Als dann aber Shakespeares „Sommernachtstraum“ mit Men-
delssohns Bühnenmusik aufgeführt wurde, kam wieder der Antisemitis-
mus zum Vorschein: „Man braucht nicht gerade Antisemit zu sein, um die
Musik Mendelssohn’s bei all ihrer Talentgröße gemütsarm zu finden und
besonders braucht man auch nicht erfreut zu sein, daß die ,Volksoper‘ sich
so sehr beeilt hat, vor dem Judentum seine Reverenz zu machen.“53

Die Menge der noch von Direktor Müller=Guttenbrunn abgeschlos-
senen Verträge führte aber bald dazu, daß Direktor Simons um Nachlas-
sung der Pachtsumme ansuchen mußte. Und wieder schlug der Antisemi-
tismus zu: Man habe Direktor Simons sogar erlaubt, „von dem strengen
Prinzip, das nichtdeutsche Autoren von den Aufführungen im Stadtthe-
ater ausschließt“, Abstand zu nehmen, weil er „beruhigende Erklärungen
über seine finanziellen Verhältnisse gab“. Diese Konzessionen, „die ihm
im Handumdrehen die Sympathien und Unterstützung der gesamten Ju-
denpresse eintrugen“, hätte man ihm nie eingeräumt, wenn man gewußt
hätte, „daß er schon nach einem Vierteljahr unter Androhung sonstiger
Zahlungsunfähigkeitserklärung die Forderung der Erlassung des ganzen
Pachts für das laufende Jahr erheben würde“. Und die „Ausrede auf die
Vorbereitungen für die Volksopernvorstellungen“ zöge auch nicht, da Herr
Simons ja keine Opernvorstellungen geben müsse. Und „bewährte Ken-
ner der Wiener Verhältnisse halten die Zusammenkuppelung der Oper
mit dem Schauspiel im Jubiläumstheater für ein von vornherein aussichts-
loses Beginnen.“ Man würde also kaum Lust verspüren, dem Herrn Rai-
ner Simons die Pacht zu erlassen, damit derselbe Herrn Müller=Gutten-
brunn jährlich 20.000 K. zur Bezahlung seiner Schulden zur Verfügung
stellen kann und das Theater noch obendrein der jüdischen Clique auslie-
fere.“ Und bei einem allfälligen neuen Pächter solle der Ausschuß die Ga-

49 Neues Wiener Tagblatt Nr. 251, 13. September 1903, S. 10.
50 Illustriertes Wiener Extrablatt Nr. 257, 19. September 103, S. 9.
51 Das Vaterland Nr. 258, 20. September 1903, S. 6, sowie Illustriertes Wiener Extrablatt

Nr. 258, 20. September 1903, S. 5.
52 Reichspost Nr. 215, 22. September 1903, S. 10.
53 Wiener Neueste Nachrichten Nr. 40, 5. Oktober 1903, S. 3.

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