Page 258 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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            ten.  Wie jede Vorschreibung sollte aber auch diese relativiert werden, da
            zum Beispiel auch spannungsvolle Pausen verlängert werden können, um
            ihre Wirkung noch weiter zu steigern, und umgekehrt lösende Pausen ge-
            kürzt werden können, um zum Beispiel den Zusammenhalt der übergeord-
            neten Struktureinheit zu bewahren.
                 Überdies können Pausen laut Swinkin eine motivische Funktion über-
            nehmen, wie im Nocturne op. 48 Nr. 1 zu sehen ist, wo er eine Verlängerung
            dieser Pausen empfiehlt.  Diese Verlängerung steigert unter anderem die
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            rhetorische Kraft, die den Pausen in diesem Werk jedenfalls zuzuschreiben
            ist. Auch Stein bespricht dasselbe Nocturne und schreibt diesen Pausen die
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            Intensivierung der Traurigkeit zu,  woraus eine weitere Funktion der Pau-
            sen herauslesbar ist: die Intensivierung eines bereits zugrundeliegenden
            Charakters. Dies erfolgt oft durch eine Konnotation der Atemlosigkeit, wo-
            bei der betroffene Charakter heiter sein kann, wie im dritten Prélude, oder
            es kann sich um einen Schluchzer-Effekt oder „Ochetus“ handeln, der laut
            Leichtentritt den agitato-Charakter des Hauptthemas des Kopfsatzes der b-
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            Moll-Sonate (Notenbeispiel 13) ausmacht.  Das ständige Unterbrechen be-
            einflusst den Charakter des Themas und erzeugt eine Teilung in viele kurze
            Zwei- oder Drei-Ton-Gruppen, die entsprechend abphrasiert werden sollten.
            Die Kurzatmigkeit kann sich auch physisch durch viele kleine Hand- oder











            Notenbeispiel 13: Sonate Nr. 2 in b-Moll, op. 35, 1. Satz, T. 9–12.
            Oberkörperbewegungen manifestieren, die den besagten Gruppen entspre-
            chen und die Interpretation prägen. 44
                 Eine erwähnenswerte Rolle spielen auch Generalpausen. Diese stellen
            laut Uhde und Wieland, insbesondere mit der Fermate, eine stauende Un-
            terbrechung der kontinuierlichen Bewegung zugunsten höherer Intensität

            40   Stein, Musik. Form und Darstellung, 52.
            41   Swinkin,  Performative analysis, 83.
            42   Stein, Musik. Form und Darstellung, 52.
            43   Hugo Leichtentritt,  Analyse der Chopin’schen Klavierwerke (Berlin: Max Hesses,
                 1922), 211.
            44   Siehe auch op. 23, T. 101–106.


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