Page 259 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
P. 259

analyse des rhythmus als mittel der interpretation ...
            dar und treten oft vor Schlüssen auf, wodurch sie eine gewissermaßen ba-
                                                 45
            rocke Pathos-Qualität mit sich bringen.  Als ein Beispiel ist das Ende des
            vierten Prélude (Notenbeispiel 14) nennbar, wo eine Pause im Sinne einer
            Abruptio einem Trugschluss mit der enharmonisch umnotierten „deut-
            schen“ Doppeldominante ( mit tiefalterierter Quinte, aber hier mit dem
            Leitton zur Dominante im Bass) folgt, und die notierte Verlängerung der
            Pause die Erwartungsspannung noch weiter steigen lässt. Erwähnenswert
            ist auch die rhetorische Rolle der Generalpausen, die am Anfang der ersten
                                    46
            Ballade zu beobachten ist.  Sie stellen Ruhepunkte zwischen den einzelnen
            Phrasen dieses Rezitativs dar und können daher frei gestaltet werden. Vor
            allem bei der ersten Pause mit der Dauer von nur einer Viertel ist eine Ver-
            längerung geradezu notwendig, um die nächste Phrase ausreichend vorbe-
            reiten zu können.












            Notenbeispiel 14: Prélude in e-Moll, op. 28 Nr. 4, T. 22–25.

                 Eine weitere besondere Verwendung der Pause als Kennzeichen fürs
            „ältere“ rubato bei Chopin ist laut Ekier bei der „insertion of a rest divi-
            ding up a passage of regular rhythmic values”  zu finden. Dies bedeutet,
                                                       47
            dass zum Beispiel eine konstante Bewegung in Sechzehnteln durch eine
            Zweiunddreißigstelpause (und eine entsprechende Zweiunddreißigstelno-
            te) unterbrochen wird, und ist vor allem bei Läufen, Fiorituren oder sons-
            tigen schnelleren linearen Bewegungen zu finden. Ekier erwähnt Chopins
                                                           48
            Unentschlossenheit bei der Notation dieser Stellen  und sieht dies als ein
            Zeichen für die Unzulänglichkeit des musikalischen Texts an, den ge-
            wünschten Effekt des Komponisten zu notieren. Die Pause stelle vermut-
            lich eine Geste dar – eine Handhebung zwischen annähernd gleichmäßi-

            45   Uhde und Wieland, Denken und Spielen, 463.
            46   Siehe auch op. 58, 1. Satz, T. 63, wo die Abruptio-Pause nur eine Achtel lang ist.
            47   Ekier,  Introduction to the Polish National Edition, 69.
            48   Es gibt zwei Versionen der Erscheinung, mit der Pause vor oder nach dem verkürz-
                 ten Ton, und manchmal sind bei derselben Stelle unterschiedliche Versionen in ver-
                 schiedenen Quellen vorhanden.


                                                                              259
   254   255   256   257   258   259   260   261   262   263   264