Page 256 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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            und dabei wird betont, dass die Bewegung nicht zu stark aufhalten soll-
            te: Hierzu könnten die komplementären Töne in anderen Stimmen nütz-
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            lich sein.  Ein möglicher Grund für dieses Bestehen auf der rhythmischen
            Genauigkeit bei den Punktierungen ist, dass die Unterschiede in der zeitli-
            chen Gestaltung zwischen punktierten und doppelt punktierten Tönen so-
            wie Triolen nicht sehr groß sind, und somit steigt die Gefahr der Nivellie-
            rung dieser verschiedenen Rhythmen. Diese Figuren sollen aber dezidiert
            unterschiedlich klingen, nicht zuletzt im empfundenen Grad an rhythmi-
            scher „Schärfe“. Diese Schärfe ist unter anderem ein wichtiges Charakte-
            ristikum der Topoi, in denen punktierte Figuren vorkommen – vor allem
            Märsche, inklusive der Sondertypen Trauermarsch oder der Märsche mit
            Militärkonnotationen.











            Notenbeispiel 11: Konzert Nr. 2 in f-Moll, op. 21, 1. Satz, T. 169f.

                 Auch außerhalb eines Topos können punktierte Noten eine gewisse
            Spannung oder Vorwärtsrichtung einbringen. So fungieren sie in T. 169ff.
            des Kopfsatzes des zweiten Konzerts (Notenbeispiel 11) nach einem  dol-
            ce-Einschub als Ausstieg aus diesem, und die allmählich steigende Span-
            nung führt zum ekstatischen Ende der Exposition. Zur prägnanten Aus-
            führung der punktierten Figuren trägt das strenge Zusammenspiel des
            kürzeren Tons (c‘‘) mit der linken Hand bei, indem es sicherstellt, dass die
            Sechzehntel nicht anhand ihrer Kürze unartikuliert bleibt. Eine Differen-
            zierungsmöglichkeit ist bei der Doppelpunktierung am Ende des Taktes
            gegeben: Sie muss in Bezug auf die linke Hand später auftreten und en-
            ger an den nachfolgenden Ton gebunden sein, damit die gesteigerte rhyth-
            mische Schärfe spürbar wird. Dabei ist ein kleines Zögern nach dem b‘ in
            T. 169 nützlich, weil es der rechten Hand die Möglichkeit gibt, sozusagen






            36   Wolff, Interpretation auf dem Klavier, 164; zit. nach Sobotzik, Artur Schnabel und die
                 Grundfragen musikalischer Interpretationspraxis, 143.


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