Page 254 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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            Notenbeispiel 9a: Ballade Nr. 1 in g-Moll, op. 23, T. 110–113.










            Notenbeispiel 9b: Ballade Nr. 1 in g-Moll, op. 23, T. 179f.

                 Auch Quartolen treten an besonders ausdrucksreichen Stellen auf, wie
            die T. 112 und 179 der ersten Ballade (Notenbeispiel 9) zeigen. Bei beiden
            Stellen handelt es sich um spannungsgesteigerte Wiederaufnahmen des
            Seitenthemas. In T. 112 wird mit dem Dominantseptakkord auf Cis die in
            T. 110 etablierte emotionsgeladene Quintfallsequenz mit Septimen verlas-
            sen. Durch die harmonische Wirkung der Zwischendominante zu fis-Moll
            lässt sich dieser Ausstieg als dramatisch beschreiben, was durch die Chro-
            matik und die Quartole gesteigert wird. Die durch die Änderung der Pro-
            portionen der Tondauer und durch das „Auseinanderlaufen“ der beiden
            Hände entstehende rhythmische Desorientierung erlaubt auch hier eine
            größere Freiheit in der agogischen Gestaltung, die zugleich zur Expressi-
            vität der Aufführung dieser Stelle beitragen würde. Diese Desorientierung
            ist in T. 179 noch größer, weil drei verschiedene Teilungen des Schlages
            in der Proportion 4:6:9 gleichzeitig hörbar sind: Achtel im Bass, Viertel-
            quartolen in der Mittelstimme und Achteltriolen am Ende des Taktes in
            der Oberstimme. Dabei handelt es sich um die Schlusskadenz der letzten
                          32
            apotheotischen  Wiederaufnahme des Seitenthemas, was den hohen Span-
            nungsgrad erklärt. Die Erwartungsspannung in diesem kadenzierenden
            halben Takt lässt sich durch die Hervorhebung der Mittelstimme mit den

            32   Eine Apotheose ist laut der Definition von Cone „a special kind of recapitulation that
                 reveals unexpected harmonic richness and textural excitement in a theme previous-
                 ly presented with deliberately restricted harmonization and relatively drab accompa-
                 niment“; Edward T. Cone, Musical form and musical performance (New York: W.W.
                 Norton, 1968), 84.


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