Page 255 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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analyse des rhythmus als mittel der interpretation ...
            Quartolen und ihres fast chaotischen Auseinanderlaufens mit den anderen
            Stimmen sowie eine zeitliche Dehnung, die der Stelle noch mehr Entfal-
            tungsspielraum einräumt, zuspitzen.
                 Wenn  Quartolen als rhythmisch destabilisierend beschrieben wer-
            den können, dann ist diese Wirkung bei kleineren unregelmäßigen Un-
            terteilungen des Schlages, vor allem bei ungeraden Zahlen (wie z.B. Septo-
            len), noch stärker. Dieser Effekt ist nicht nur wie im letzten Beispiel bei den
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            spannungsgeladenen Stellen zu beobachten,  sondern er kommt auch (oder
            möglicherweise noch mehr) bei sanfteren Stellen zum Tragen. Beim dolcis-
            simo-Schluss des Des-Dur-Nocturnes (Notenbeispiel 10) sorgen die Septo-
            len im 7:6-Polyrhythmus für die Verunsicherung des Richtungssinns, was
            mit der sich-entfernenden rechten Hand zusammenpasst. Das dolcissimo
            und das diminuendo weisen auf eine romantisch-verschleierte Aufführung
            mit dem allmählichen Verlöschen des Klanges hin, wobei selbstverständ-
            lich auch ein ritenuto angebracht ist, und das deutliche Auseinanderlaufen
            der beiden Hände die beschriebene Desorientationswirkung steigern wür-
            de. Daher ist eine Modifikation der Septole zu vier Sechzehnteln und einer
            Sechzehnteltriole nicht empfehlenswert.












            Notenbeispiel 10: Nocturne in Des-Dur, op. 27 Nr. 2, T. 75–77.
                 Die rhythmischen Gestalten, die zu den spannungsgeladensten rhyth-
            mischen Gestalten gezählt werden können, sind die punktierten Figuren,
            wozu naheliegenderweise der Kontrast zwischen der längeren Note auf dem
            Schlag und der schärferen, kürzeren Note, die zum folgenden Schlag ge-
            richtet ist, beiträgt. Laut Stein sollte jedoch ihre rhythmische Spannung bei
            der Aufführung nicht übertrieben werden, und das Verhältnis der beiden
            Töne sollte „verständlich“ sein.  Auch in der Interpretationslehre Schna-
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            bels ist bei den punktierten Noten Präzision in der Aufführung gefragt,
            33   Siehe auch op. 23 T. 170–172 mit Quintolen gegen Sextolen.
            34   Stein, Musik. Form und Darstellung, 46.
            35   Wolff, Interpretation auf dem Klavier, 129, 169; zit. nach: Sobotzik, Artur Schnabel
                 und die Grundfragen musikalischer Interpretationspraxis, 85.


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