Page 35 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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Weiss, Jernej, ur. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim | Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific.
                         Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. https://doi.org/10.26493/978-961-293-425-5.35-51
                         © 2025 Helmut Loos











                 Der Dirigent. Anspruch und Wirkung

                 Helmut Loos
                 Univerza v Leipzigu
                 Universität Leipzig




            Zweimal zieht Elias Canetti in seinem 1960 erschienenen philosophischen
            Hauptwerk Masse und Macht das Konzert Ernster Musik als Beispiel zur
            Demonstration gesellschaftlicher Wirkungsfunktionen heran. Das Orches-
            ter gilt ihm als Muster eines Massenkristalls, einer kleinen, rigiden Grup-
            pe von Menschen, die dazu dient, Massen auszulösen. In seiner Beständig-
            keit verschwinden die einzelnen Personen, trotz der verteilten Funktionen
            treten sie nur als Ganzes in Erscheinung, die Orchestermusiker werden
            nicht als eigene Existenz wahrgenommen, sondern immer nur als Orches-
            ter. Gegen Ende seiner Abhandlung unternimmt Canetti eine Charakteri-
            sierung des Dirigenten, denn es gebe keinen anschaulicheren Ausdruck für
            die Natur der Macht als dessen Tätigkeit. Die Musik erscheine den Men-
            schen als Hauptsache, und es gelte als ausgemacht, dass man in Konzer-
            te gehe, um Sinfonien zu hören. Sie vermittle der Dirigent als Diener, sonst
            nichts. Er habe die Macht über Leben und Tod der Stimmen. Die Verschie-
            denheit der Instrumente stehe für die Verschiedenheit der Menschen, das
            Orchester sei wie eine Versammlung all ihrer wichtigsten Typen. Ihre Be-
            reitschaft zu gehorchen ermögliche es dem Dirigenten, sie in eine Einheit
            zu verwandeln, die er dann allgemein sichtbar vorstelle. Die gesamte Kon-
            zertsituation mit ihren Ritualen sei auf den Dirigenten ausgerichtet, er sei
            für die Menge im Saal der Führer. Über seine kleine Armee von Berufs-
            spielern übe er eine absolute Befehlsgewalt aus, er allein besitze die Partitur
            und sei damit allgegenwärtig. Der Dirigent stelle das ganze Werk in seiner
            Gleich zeitigkeit und seiner Aufeinanderfolge vor, die Welt bestehe während


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