Page 38 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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wird er häufig maßgeblich zitiert. Somit steht nahezu im gesamten, um-
fangreichen Schrifttum über den Dirigenten und seine Funktion diese Po-
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sition nicht in Frage, sondern Fragen der Bewegung, des Tanzes oder der
Ausstrahlung werden umfangreiche Abhandlungen gewidmet, womit der
Mythos um die Ausnahmepersönlichkeit nur noch vergrößert wird. Selbst
kritische Stimmen legen Funktionsmechanismen offen und geißeln Aus-
wüchse, ohne die musikästhetische Legitimation zu hinterfragen.
Als maßgeblich für die neue Ausrichtung des Orchesterleiters im 19.
Jahrhundert wird in der Regel Richard Wagner mit seiner Schrift Über das
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Dirigiren aus dem Jahre 1869 herangezogen. Für Karl Böhm stand fest: „Das
Studium der Wagner’schen Schrift müsste für jeden Dirigenten eine Selbst-
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verständlichkeit sein.“ Für Wagner wichtig war das richtige Tempo, das er
glaubte, es müsse aus dem Melos erfasst werden. Wenn etwas früher Franz
Liszt das Motto ausgab, Dirigenten seien „Steuermänner und keine Ruder-
knechte“, so war damit ihre neue Rolle als für die Interpretation des Wer-
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kes verantwortliche Persönlichkeiten umrissen. In Leipzig vollzog sich der
Schritt vom „Ruderknecht“ zum „Steuermann“ mit dem Wechsel von Carl
Reinecke zu Arthur Nikisch im Jahre 1895. Damit wurde offenbar einem
9 Mariama Diagne, „Klang-Körper dirigieren. Gesten der Vermittlung im zeitgenös-
sischen Tanz bei Xavier Le Roy und Jonathan Burrows & Matteo Fargion“, in Diri-
gentenBilder. Musikalische Gesten – verkörperte Musik, Hrsg. Arne Stollberg, Jana
Weißenfeld und Florian Henri Besthorn (Basel: Schwabe Verlag, [2015]), 435–59, hier
438: „Mythologisierung einer Kunstfertigkeit“.
10 Dieter Gutknecht, „Richard Wagner: »Über das [mein] Dirigiren« (1869) – vom
Einsteiger zum interpretierenden Dirigenten“, in Beiträge zum Symposium „Wagner-
Lesarten - Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen« im Blickfeld der ›historischen
Aufführungspraxis‹“, Hrsg. Kai Hinrich Müller (Köln: Freunde von Concerto Köln e.
V., 2019), Online-Version: https://musiconn.qucosa.de/api/qucosa%3A34373/attach-
ment/ATT-0/. Raymond Holden, The virtuoso conductors. The Central European tra-
dition from Wagner to Karajan (New Haven: Conn., [u.a.]: Yale Univ. Press, 2005).
11 Karl Böhm, zitiert nach: Chris Walton, „Von innen nach außen. Beethovens Neunte
Sinfonie und die ‚Wagnersche‘ Dirigiertradition“, in Rund um Beethoven. Interpreta-
tionsforschung heute, Hrsg. Thomas Gartmann und Daniel Allenbach (Schliengen/
Markgräflerland: Edition Argus, 2019), 218–37, hier 218, https://doi.org/10.26045/
kp64-6178-012. Ibid., 219: „In der Tat findet man nach Wagners Tod praktisch kein
Buch über die Kunst des Dirigierens, das sich nicht auf ihn bezieht“.
12 Franz Liszt, „Ein Brief über das Dirigiren. Eine Abwehr (1853)“, in: Franz Liszt,
Streifzüge. Kritische, polemische und zeithistorische Essays (Gesammelte Schriften V),
Hrsg. Lina Ramann (Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1882), 227–32, hier 232. Siehe
auch Nina Noeske, „Steuermänner versus Ruderknechte, Franz Liszt als Pultvirtuo-
se“, in DirigentenBilder. Musikalische Gesten – verkörperte Musik, Hrsg. Arne Stoll-
berg, Jana Weißenfeld und Florian Henri Besthorn (Basel: Schwabe Verlag, [2015]),
123–45.
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