Page 37 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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der dirigent. anspruch und wirkung
in Dahlhaus‘ Darlegungen zum Dirigenten keine Berücksichtigung, ob-
gleich doch das Konzept der antiautoritären Erziehung seinerzeit breite Re-
sonanz in der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre fand. Vielmehr
beharrt Dahlhaus darauf, dass die Macht des Dirigenten wie die eines Feld-
herrn oder Zauberers „in der Sache selbst, in der ästhetischen Eigenart der
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Orchestermusik“ begründet liege. Dafür verantwortlich sei die Musik als
„redende“ Kunst, als Sprache (erstaunlich für einen Apologeten der abso-
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luten Musik, als der Dahlhaus ansonsten aufgetreten ist ). Symphonische
Musik benötige den Dirigenten als ästhetisches Subjekt, als Schauspie-
ler zur Vermittlung; seine „beredte Gestik“ gehöre „zur ästhetischen Sa-
che selbst und nicht zu den Bedingungen der Aufführung“. So brachte Dahl-
haus auch kein Verständnis auf für Stücke wie Dieter Schnebels „Solo für
einen Dirigenten“ nostalgie (auch Visible music II) von 1960 oder Mauri-
cio Kagels Fernsehfilm Solo für einen Dirigenten ohne Orchester von 1967.
Experimente einiger Dirigenten mit kooperativen, partizipativen oder lais-
sez-faire Führungsstilen stießen selbst bei Orchestermusikern meist auf
Unverständnis und wurden als abwegig allgemein belächelt.
Dahlhaus‘ gesamte Argumentation beruht auf der aus der Sache her-
aus angenommenen Behauptung, die Musik bedürfe einer Person als reden-
den Subjekts, da ein Orchester schlecht dazu tauge, als Person aufgefasst zu
werden, „die sich musikalisch ausdrückt.“ Die Faszination, die ein funkti-
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onierender Organismus ohne einen erkennbaren Leiter auslösen kann, wie
wir sie in der Natur etwa angesichts von Bienenstöcken oder Ameisenhau-
fen empfinden können, kommt ihm nicht in den Sinn, so dominant ist sei-
ne Überzeugung von der Notwendigkeit eines dominanten Führers. Sie hat
ihren Ursprung in der Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Li-
teratur, Philosophie und Politik 1750–1945, wie sie Jochen Schmidt in seiner
gleichnamigen Schrift ausführlich beschrieben hat. Dahlhaus‘ kurzer Bei-
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trag war sehr einflussreich, in neuerem musikwissenschaftlichem Schrifttum
5 Ibid., 371. Ibid. auch die folgenden Zitate.
6 Aus dem Verweis auf die Sprache des Unsagbaren der romantischen Musikan-
schauung zu erklären sucht dies Arne Stollberg, „«Mimische Ausdruckshandlun-
gen». Der Dirigentenkörper am anthropologischen Musikdiskurs des 19. und 20.
Jahrhunderts“, in DirigentenBilder. Musikalische Gesten – verkörperte Musik, Hrsg.
Arne Stollberg, Jana Weißenfeld und Florian Henri Besthorn (Basel: Schwabe Ver-
lag, [2015]), 15–47, hier 21.
7 Dahlhaus, „Der Dirigent als Statthalter“, 371.
8 Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur,
Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde. (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge-
sellschaft, 1985).
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