Page 36 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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der Aufführung aus nichts anderem, und genauso lange sei der Dirigent der
Herrscher der Welt. 1
Im Unterschied zu Canettis sachlicher Darstellung ist die Analyse von
Theodor W. Adorno ganz von seiner persönlichen Musikphilosophie ge-
prägt. Mit Canetti teilt Adorno den Grundansatz: „Der Dirigent […] ist eine
imago, die von Macht, die er sichtbar als herausgehobene Figur und durch
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schlagende Gestik verkörpert.“ Und konstatiert: „Die Übereinstimmung vie-
ler kritischer Befunde, zu denen so verschieden Denkende gelangten, spricht
für sich selbst.“ Tatsächlich gehörte alsbald die „Dirigentenbeschimpfung
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[…] zu den Gemeinplätzen der Musikkritik“, wie Carl Dahlhaus 1976 fest-
stellte und sich vehement dafür einsetzte, „sich nicht in eiferndem Protest
zu erschöpfen“, sondern „die – partiell durchaus vernünftigen – Gründe des
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beargwöhnte Phänomens“ wahrzunehmen. Aufgrund der Vergrößerung
des Orchesterapparats und des wachsenden Schwierigkeitsgrads der Par-
tituren sei der moderne Dirigent notwendig geworden, zumal durch Ton-
aufnahmen die Hör- und Urteilsgewohnheiten des Publikums anspruchs-
voller geworden seien und die Ausgeglichenheit des Klangbildes und die
Präzision der Einsätze „ohne einen Dirigenten, den das Orchester als abso-
luten Herrn über das, was musikalisch geschieht“, nicht zu erreichen seien.
„Es ist die Angst vor dem durch die Schallplattenkultur gesetzten Standard,
welche ein Orchester zur einspruchslosen Unterwerfung unter die Dirigen-
ten treibt.“ Auch die „verwirrende stilistische Vielfalt“ des Repertoires zwin-
ge zum „Dirigismus“, „zur Konzentration musikalischer Macht auf den
Dirigenten“, zur „Unterwerfung unter die Diktatur eines Dirigenten“. Was
Dahlhaus hier beschreibt und mit keiner Silbe in Zweifel zieht, ist nach
Kurt Lewin als autoritärer Führungsstil zu bezeichnen, der dem Führer-
prinzip nahe kommt. Reflexionen der Führungsforschung, die nach dem
Zweiten Weltkrieg zu geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldern bis hin
zu Betriebswirtschaftslehre und Organisationspsychologie wurden, finden
1 Elias Canetti, Masse und Macht (Hildesheim: Claassen, 1960; Lizenzausgabe Frank-
furt/M.: Fischer Taschenbuch, 1992), 442–4.
2 Theodor W. Adorno, „Dirigent und Orchester. Sozialpsychologische Aspekte“, in:
Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesun-
gen (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1962, Hamburg: Rowohlt, 1968), 115–28, hier 115.
3 Ibid.
4 Carl Dahlhaus, „Der Dirigent als Statthalter“, Melos/Neue Zeitschrift für Musik 2
(1976): 370f., hier 370. Ibid. auch die folgenden Zitate. Ohne Dahlhaus näher zu be-
rücksichtigen geht breiter auf die Thematik ein Wolfgang Hattinger, Der Dirigent:
Mythos - Macht – Merkwürdigkeiten (Kassel, Stuttgart-Weimar: Bärenreiter, Metz-
ler, 2013), insbesondere 128–50.
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