Page 77 - Weiss, Jernej, ur. 2019. Vloga nacionalnih opernih gledališč v 20. in 21. stoletju - The Role of National Opera Houses in the 20th and 21st Centuries. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 3
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die wiener volksoper als „nationale spielstätte“

Die Wiener Volksoper soll ergänzend an der Seite unserer herrlichen,
weltberühmten Hofoper ihre Thätigkeit entfalten, indem sie sich die Auf-
führung jener Werke der Opern=Literatur zur Aufgabe stellt, welche ent-
weder mangels eines geeigneten Hauses nicht zu entsprechender Wirkung
gelangen oder aber in Anbetracht der für ein großes Opernhaus in erster
Reihe stehenden Aufgaben keine Berücksichtigung finden können.

Auch soll durch die Errichtung einer Wiener Volksoper zahlreichen
talentierten jungen Künstlern auf dem Gebiete des Gesanges und der In-
strumental=Musik, wie sie alljährlich aus den Musikschulen unserer Stadt,
voran aus unserem altehrwürdigen Wiener Conservatorium, hervorgehen
und meist im Auslande Stellung und Anerkennung suchen müssen, dann
eine würdige heimische Stätte ihrer künstlerischen Thätigkeit vorzuführen.

Ebenso soll den heimischen Componisten Gelegenheit gegeben sein,
auch kleinere Opern vorzuführen.

Dem großen Publicum aber soll eine neue Stätte der Pflege edler Mu-
sik entstehen, wo bei billigen Eintrittspreisen in dem vornehmen Rahmen
eines neuen, mit allem modernen Comfort ausgestatteten Hauses nur Vor-
zügliches zur Aufführung gelangt.

Mitbürger, Musikfreunde aller Gesellschaftsclassen!

Vereinigen Sie sich mit uns und helfen Sie ein Werk begründen,
das der auf unserem Wiener Boden so unvergleichlich gedeihenden
Tonkunst gewidmet sein soll, der Stadt, in der unsere Meister Gluck,
Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner, Lanner,
Strauss (Vater und Söhne) und eine stattliche Reihe von Meistern
der heiteren Tonkunst gelebt und Unsterbliches geschaffen.

Lassen Sie uns zusammenstehen, eine künstlerische That zu voll-
bringen, welche allen Opernfreunden Wiens ohne Unterschied des
Ranges und der Mittel nach des Tages Arbeit und Mühen edle Zer-
streuung durch herzerfreuenden Musikgenuss bieten soll.

Möge dieser Appell nicht unbeachtet verhallen und unser schönes
Wien, die Stadt der Lieder, um eine Stätte für Tonkunst und Volks-
bildung bereichert werden !

Und diese Stätte, sie soll geschaffen werden aus dem Volke und
durch das Volk für das Volk. [...].

Wien, im Februar 1901

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