Page 251 - Weiss, Jernej, ur./ed. 2025. Glasbena interpretacija: med umetniškim in znanstvenim┊Music Interpretation: Between the Artistic and the Scientific. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 8
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analyse des rhythmus als mittel der interpretation ...
                 Zu erwähnen sind auch Stellen, an denen eine Überbindung in der
            Mittelstimme ein rubato aus spieltechnischen Gründen geradezu erzwingt.
            Diese Gründe können vielfältig sein: Kürze der ersten Tondauer bei der
            Überbindung oder ein schnelles Tempo, mehrtönige Gestaltung der Ak-
            korde, Änderungen der Handposition oder auch eine Notwendigkeit des
            stummen Wechsels der Finger. Alle diese Schwierigkeiten sind in T. 79
            des Kopfsatzes der zweiten Sonate (Notenbeispiel 7) durch die zahlreichen
            Überbindungen in den Mittelstimmen gegeben. Die Überbindungen per se
            sind durch das Tempo und die Lautstärke kaum hörbar, weshalb es wahr-
            scheinlich erscheint, dass der Grund für ihre Notation die Erzeugung eines
            natürlichen rubato ist. 24












            Notenbeispiel 7: Sonate Nr. 2 in b-Moll, op. 35, 1. Satz, T. 79.

                 Die nächsten rhythmischen Besonderheiten, die in diesem Aufsatz be-
            sprochen werden, sind die unregelmäßigen Teilungen des Schlags, wie Tri-
            olen, Quintolen usw. Diese haben insbesondere dann eine starke Wirkung,
            wenn sie in einem Abschnitt nur selten vorkommen. Sie können als aus-
            drucksteigernd oder sogar rhetorisch bzw. deklamatorisch  gedeutet wer-
                                                                  25
            den, und ferner markieren sie häufig formal bedeutsame Stellen, wie Da-
            vis in seiner Beschäftigung mit der narrativen Struktur des Kopfsatzes der
            h-Moll-Sonate erkennt: Triolen seien etwa bei den narrativen Brüchen und
            Einschüben in T. 17 und 29 zu sehen  und stellen „Chopin’s preferred means
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            24   Siehe auch op. 28 Nr. 7, T. 5f., wo das übergebundene d‘ in der Unterstimme der rech-
                 ten Hand eine rubato-Aufführung bewerkstelligt, die den Einsatz der Dominantno-
                 ne unterstreicht, oder op. 38, T. 97f., wo das übergebundene As in T. 98 auf den No-
                 nensprung zum b‘ aufzeigt, das gleichzeitig eine neue Linie anfangen lässt, sowie op.
                 21, 1. Satz, T. 17f., wo das es vor dem expressiven Oktavsprung mit Vorschlag steht
                 und eine Ausführung als einen weichen Sprung mit rubato nahelegt.
            25   Siehe etwa op. 32 Nr. 1, T. 62, wo die Triolen in der linken Hand das Rezitativ vorbe-
                 reiten.
            26   Andrew Davis, „Chopin and the Romantic Sonata: The First Movement of Op. 58“,
                 Music Theory Spectrum 36, Nr. 2 (2014): 281.


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