Page 34 - Weiss, Jernej, ur. 2019. Vloga nacionalnih opernih gledališč v 20. in 21. stoletju - The Role of National Opera Houses in the 20th and 21st Centuries. Koper/Ljubljana: Založba Univerze na Primorskem in Festival Ljubljana. Studia musicologica Labacensia, 3
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vloga nacionalnih opernih gledališč v 20. in 21. stoletju
in der Behandlung der weiblichen Singstimmen, aber auch im Orchester,
das auf ingeniöse Weise die Reihentechnik weiter entwickelt oder mit Clu-
stern arbeitet.“43 Auch Gerd Kührs Stallerhof nach Franz Xaver Kroetz
(München 1988) ist laut Hirsbrunner unter die Literaturopern einzureihen,
wenngleich sie auch als Sprachlosigkeit und Sprachskepsis thematisierende
„Anti-Oper“ gesehen werden kann. Rihms Hamletmaschine (Mannheim
1992) und die Eroberung von Mexiko (Hamburg 1992) realisieren „eine
Musik, die selbst Drama ist“.44 Auch Helmut Lachenmann erreicht einen
extremen Punkt mit seiner Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
(Hamburg 1997), der, so Hirsbrunner, „nach einer Zuhörerschaft von Ein-
geweihten ruft“. Dasselbe gilt für Beat Furrers Musiktheater, z.B. Narcissus
(Graz 1994) und Olga Neuwirth.
Aufschlussreich ist, dass auch unter dem Blickwinkel des Experimen-
tellen ähnliche Werke im Vordergrund stehen. Betrachtet man die belieb-
testen Werke, fällt auf, dass nicht nur die Klassizität ein wesentlicher Fak-
tor für die Präsenz am Spielplan zu sein scheint, sondern vice versa gerade
diese auch auf einer Aktualität und kritischem Potential beruht, die den
Stücken inhärent ist bzw. das sie in der jeweils aktuellen politischen Si-
tuation in der öffentlichen Debatte erhalten. Als ein Beispiel kann dafür
die Dreigroschenoper dienen. Entstanden in einer Kooperation von Ernst
Josef Aufricht und Bert Brecht, die das Ziel verband, in Berlin mit der Be-
arbeitung von John Gas Beggar’s Opera (London 1728) einen Theatererfolg
zu landen: Aufricht hatte am Schiffbauerdamm das Theater gepachtet und
war auf der Suche nach einem geeigneten Eröffnungsstück. Zunächst der
Beteiligung des als Avantgardisten bekannten Kurt Weill weniger erbaut,
ließ sich Aufricht jedoch von dem Dramaturgen Robert Vambery überzeu-
gen, der Weills Songs als anrührend, weil zugleich fremd, naiv und raf-
finiert empfandDas Stück wurde, wie Frieder Reininghaus schreibt, „mit
seiner Anti-Bürgerlichkeit und seinen wohldosierten literarischen Bruta-
litäten“ ein Sensationserfolg, der auch zahlungskräftige Beamte, Angestell-
te und Glücksritter nicht durch marxistische Ideologie zu sehr verschreck-
te. Caspar Neher war der Ausstatter, der ebenso von dem Erfolg profitierte
wie Komponist und Dichter.45 Das Sujet thematisiert die Verflechtungen
der Unterwelt mit dem Staatssicherheitsapparat und entsprach damit der
Unsicherheit, die die „kleinen Leute“ in der „unsicheren Politik der demo-
43 Hirsbrunner, „Musiktheater der Gegenwart“, 30.
44 Ibid., 34.
45 Der Uraufführung folgen innerhalb eines Jahres ca. 4000 Vorstellungen an über 100
Theatern.
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in der Behandlung der weiblichen Singstimmen, aber auch im Orchester,
das auf ingeniöse Weise die Reihentechnik weiter entwickelt oder mit Clu-
stern arbeitet.“43 Auch Gerd Kührs Stallerhof nach Franz Xaver Kroetz
(München 1988) ist laut Hirsbrunner unter die Literaturopern einzureihen,
wenngleich sie auch als Sprachlosigkeit und Sprachskepsis thematisierende
„Anti-Oper“ gesehen werden kann. Rihms Hamletmaschine (Mannheim
1992) und die Eroberung von Mexiko (Hamburg 1992) realisieren „eine
Musik, die selbst Drama ist“.44 Auch Helmut Lachenmann erreicht einen
extremen Punkt mit seiner Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
(Hamburg 1997), der, so Hirsbrunner, „nach einer Zuhörerschaft von Ein-
geweihten ruft“. Dasselbe gilt für Beat Furrers Musiktheater, z.B. Narcissus
(Graz 1994) und Olga Neuwirth.
Aufschlussreich ist, dass auch unter dem Blickwinkel des Experimen-
tellen ähnliche Werke im Vordergrund stehen. Betrachtet man die belieb-
testen Werke, fällt auf, dass nicht nur die Klassizität ein wesentlicher Fak-
tor für die Präsenz am Spielplan zu sein scheint, sondern vice versa gerade
diese auch auf einer Aktualität und kritischem Potential beruht, die den
Stücken inhärent ist bzw. das sie in der jeweils aktuellen politischen Si-
tuation in der öffentlichen Debatte erhalten. Als ein Beispiel kann dafür
die Dreigroschenoper dienen. Entstanden in einer Kooperation von Ernst
Josef Aufricht und Bert Brecht, die das Ziel verband, in Berlin mit der Be-
arbeitung von John Gas Beggar’s Opera (London 1728) einen Theatererfolg
zu landen: Aufricht hatte am Schiffbauerdamm das Theater gepachtet und
war auf der Suche nach einem geeigneten Eröffnungsstück. Zunächst der
Beteiligung des als Avantgardisten bekannten Kurt Weill weniger erbaut,
ließ sich Aufricht jedoch von dem Dramaturgen Robert Vambery überzeu-
gen, der Weills Songs als anrührend, weil zugleich fremd, naiv und raf-
finiert empfandDas Stück wurde, wie Frieder Reininghaus schreibt, „mit
seiner Anti-Bürgerlichkeit und seinen wohldosierten literarischen Bruta-
litäten“ ein Sensationserfolg, der auch zahlungskräftige Beamte, Angestell-
te und Glücksritter nicht durch marxistische Ideologie zu sehr verschreck-
te. Caspar Neher war der Ausstatter, der ebenso von dem Erfolg profitierte
wie Komponist und Dichter.45 Das Sujet thematisiert die Verflechtungen
der Unterwelt mit dem Staatssicherheitsapparat und entsprach damit der
Unsicherheit, die die „kleinen Leute“ in der „unsicheren Politik der demo-
43 Hirsbrunner, „Musiktheater der Gegenwart“, 30.
44 Ibid., 34.
45 Der Uraufführung folgen innerhalb eines Jahres ca. 4000 Vorstellungen an über 100
Theatern.
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